Die Unbefleckte Empfängnis Mariä

Bei Bildung des reinsten Leibes Mariä ging, menschlich geredet, die göttliche Weisheit und Macht mit höchster Sorgfalt zu Werke. Die Quantität und Qualität der vier Temperamente betreffend, nämlich des sanguinischen, melancholischen, phlegmatischen und cholerischen, bildete der Herr diesen Leib mit wunderbarem Ebenmaß und Gleichgewicht, damit er vermöge der vollkommensten Einheit dieser Mischung und Zusammensetzung eine so heilige Seele, wie sie ihn beseelen und beleben sollte, in ihren Tätigkeiten nicht nur nicht hindere, sondern unterstütze. Dieses wunderbare Temperament war hernach in seiner Weise gleichsam Grund und Ursache jener ungetrübten Ruhe und jenes Friedens, welchen die Kräfte und Anlagen der Himmelskönigin ihr ganzes Leben lang bewahrten. Niemals war eines jener Elemente im Widerstreite mit dem anderen, niemals war eines über das andere überwiegend, vielmehr waren sie sich gegenseitig behilflich und dienlich, um in jenem wunderbar geordneten Baue sich unversehrt und unverletzt zu erhalten; denn niemals hatte der Leib der allerseligsten Jungfrau eine Störung zu erleiden. Es waren ihm also eine so vortreffliche Komplexion und so edle Fähigkeiten verliehen, dass die ganze Natur aus sich selbst einen ähnlichen zu bilden nicht imstande wäre.

[ … ] Im Augenblicke der Erschaffung und Eingießung der Seele der allerseligsten Jungfrau sprach die Allerheiligste Dreifaltigkeit, ähnlich wie nach dem Berichte des Moses‘ bei Erschaffung des ersten Menschen, doch mit weit größerer und innigerer Liebe, die Worte: «Lasset uns Maria machen nach unserem Ebenbild und Gleichnis, unsere wahre Tochter und Braut, auserwählt zur Mutter des Eingebornen aus dem Wesen des Vaters.»

Durch die Kraft dieses göttlichen Wortes und durch die Macht der Liebe, in der es aus dem Munde des Allerhöchsten kam, ward die allerseligste Seele der heiligsten Jungfrau Maria erschaffen und ihrem Leibe eingegossen. In dem nämlichen Augenblicke wurde sie mit Gnaden und Gaben, kostbarer als die der höchsten Seraphim, erfüllt, so dass es keinen Augenblick gab, in welchem sie des Lichtes, der Freundschaft und Liebe ihres Schöpfers entbehrt hätte. Der Makel und die Finsternis der Erbsünde konnten sie nie berühren, vielmehr besaß sie stets die Gerechtigkeit im höchsten und vollkommensten Grade, weit mehr als Adam und Eva bei ihrer Erschaffung sie besessen hatten. Auch wurde ihr der vollkommenste Gebrauch der Vernunft verliehen, wie er den Gnadengaben entsprach, die sie empfing; denn diese Gaben sollten keinen Augenblick unbenützt bleiben, sondern stets die wunderbarsten Wirkungen zur höchsten Freude des Schöpfers hervorbringen. Ich muss gestehen, dass ich beim Schauen dieses großen Geheimnisses ganz entzückt bin; und da ich nicht vermag, dasselbe zu erklären, so zerfließt mein Herz in, Anmutungen der Bewunderung und Lobpreisung; denn meine Zunge verstummt.

Ich sehe, wie allmählich eine neue Erde und neue Himmel geschaffen werden, und der erste von diesen ist der Schoss eines ganz demütigen Weibes, auf welche die Augen der drei göttlichen Personen gerichtet sind. Unzählige Geister aus dem alten Himmel stehen Ihr zur Seite, und tausend Engel sind bestimmt, um den Schatz eines beseelten Leibes zu bewachen, der an Größe ein Bienlein nicht übertrifft.

Bei dieser neuen Schöpfung konnte man vernehmen, wie der Schöpfer, erfreut über das Werk seiner Allmacht, mit größerer Kraft als ehedem gesagt hat, dass es «sehr gut sei». So möge denn in frommer Demut die menschliche Gebrechlichkeit sich nahen, dieses Wunder zu schauen; sie möge die Größe des Schöpfers bekennen und Dank sagen für diese neue Gabe, die dem ganzen Menschengeschlecht in der Person seiner Wiederherstellerin geschenkt worden ist.

Der gewaltige Strom göttlicher Gnaden, durch welchen der Herr diese seine geistliche Stadt, d. i. die heiligste Seele Mariä, erfreute, nahm seinen Ursprung in dem Quell der unendlichen Weisheit und Güte Gottes. So erfüllte der Allmächtige mit größter Freude das Verlangen seines Herzens, das er von Ewigkeit her unbefriedigt gelassen hatte, bis die gelegene Zeit gekommen war, seiner Liebe freien Lauf zu geben. Dies tat der getreueste Herr, indem er in dem Augenblicke ihrer Empfängnis in die heiligste Seele Mariä alle Gnaden und Gaben in so hocherhabenem Grade ausgoss, dass kein Heiliger, ja alle zusammen nicht eine solche Stufe erreichen konnten und dass keine Zunge imstande ist, solches auszusprechen.

Imprimatur

– von Maria Agreda –
entnommen dem Buch: Mystische Stadt Gottes, 1. Buch. Immaculata-Verlag CH-6015 Reussbühl/Luzern. Erste Auflage 1968.