Das Vaterunser, das Gebet des Herrn

Das Vaterunser oder Gebet des Herrn empfängt einen ersten Vorzug von seinem Urheber; denn nicht ein Engel oder ein Mensch ist sein Urheber, sondern der König der Engel und Menschen, Jesus Christus selbst.

Es war notwendig, sagte der heilige Cyprian, daß derjenige, der gekommen war, uns als Erlöser das Leben der Gnade zu geben, uns als himmlischer Lehrmeister die Art und Weise zu beten lehre. Die Weisheit dieses himmlischen Lehrers erhellt aus der Ordnung, der Lieblichkeit, der Kraft und Klarheit dieses göttlichen Gebetes; es ist kurz, aber reich an Unterweisung, leicht faßbar für die Einfachen und voll Geheimnisse für die Gelehrten.

Das Vaterunser enthält alle Aufgaben, die wir Gott gegenüber zu erfüllen haben, die Akte aller Tugenden und die Bitten für alle unsere geistigen und leiblichen Bedürfnisse. Es enthält, sagt Tertullian, den Abriß des Evangeliums. Es übersteigt, sagt Thomas von Kempen, alle Wünsche der Heiligen; es enthält im Auszug alle lieblichen Lehren der Psalmen und Gesänge; es bittet um alles, was uns nötig ist; es lobt Gott auf vorzügliche Weise; es erhebt die Seele von der Erde zum Himmel und vereinigt sie innigst mit Gott.

Der heilige Chrysostomus sagt, wer nicht so bete, wie der göttliche Meister gebetet und zu beten gelehrt, sei nicht sein Schüler, und Gott der Vater höre die Gebete nicht gern, die der menschliche Geist ersonnen, wohl aber jene, die sein Sohn uns gelehrt.

Wir müssen das Gebet des Herrn mit der Gewißheit verrichten, daß der ewige Vater es erhören qird, weil es das Gebet seines Sohnes ist, den er immer erhört, und weil wir dessen Glieder sind; denn was könnte ein so gütiger Vater auf ein Bittgesuch hin verweigern, das so gut abgefaßt ist und sich auf die Verdienste und die Empfehlung eines so würdigen Sohnes stützt? Der heilige Augustinus versichert, ein gut verrichtetes Vaterunser tilge die läßlichen Sünden. Der Gerechte fällt siebenmal des Tages (Sprw. 24,16). Das Gebet des Herrn enthält sieben Bitten, durch die er seine Fälle wiedergutmachen und sich gegen seine Feinde stärken kann. Es ist kurz und leicht, damit wir gebrechliche und vielerlei Elend unterworfene Menschen umso raschere Hilfe finden, je öfter und andächtiger wir sie beten.

Täuschet euch also nicht, ihr frommen Seelen, die ihr das Gebet vernachlässigt, welches der eingeborene Sohn Gottes verfaßt und allen seinen Gläubigen vorgeschrieben hat, die ihr nur jene Gebete schätzet, die von Menschen verfaßt sind, als ob der Mensch, selbst der erleuchtetste, besser als Jesus Christus wüßte, wie wir beten sollen.

Ihr sucht in den Büchern der Menschen die Art Gott zu loben und zu bitten, als ob ihr euch schämen würdet, euch derjenigen zu bedienen, die sein Sohn uns vorgeschrieben.

Ihr bildet euch ein, die Gebete in den Büchern seien für die Gelehrten und die Reichen, und der Rosenkranz sei nur für die Weiber, die Kinder und das Volk, als ob die Lobeserhebungen und Bitten, die ihr lest, schöner und Gott angenehmer wären als jene, die im Gebet des Herrn enthalten sind.

Es ist eine gefährliche Versuchung, sich das Gebet verleiden zu lassen, das uns Jesus Christus anempfohlen hat, um dafür von Menschen verfaßte Gebete zu gebrauchen.

Wir mißbilligen keineswegs jene Gebete, welche die Heiligen verfaßten, um die Menschen zum Lobe Gottes anzueifern, wir können nur nicht zugeben, daß man sei jenem Gebete vorziehe, das aus dem Munde der menschgewordenen Weisheit hervorgegangen ist; daß man die Quelle verlasse, um den Bächen nachzulaufen, das klare Wasser verschmähe, um das getrübte zu trinken. Denn der Rosenkranz, aus dem Gebet des Herrn und dem Engelsgrüße zusammengesetzt, ist das klare und immerwährende Wasser, das aus der Gnadenquelle strömt, während die übrigen Gebete, die man in den Büchern sucht, nichts sind als kleine Bächlein, die davon abgeleitet werden. (Fortsetzung folgt)

Quelle: Der heilige Rosenkranz – Hl. Ludwig Maria Grignion von Monfort – Das Wunderbare Geheimnis der Bekehrung und des Heiles – Seiten 49 bis 54.