Begeht das Deutsche Volk Langsam Selbstmord?

Der Pfarrer einer Kreisstadt unserer Diözese (Limburg) machte in seiner Silvesterpredigt (1957) den Gläubigen seiner Pfarrgemeinde die erschütternde Mitteilung, daß bei gleichbleibender Seelenzahl die Geburten und Taufen seit 1950 um vierzig Prozent zurückgegangen seien. Selbst wenn man eine gewisse Überalterung der Pfarrei berücksichtigt, die sich durch Abwanderung junger Familien aus der Altstadt in umliegenden Siedlungsgebiete ergibt, so ist doch die Tatsache, daß die Geburtenzahl bei steigendem Volkseinkommen in einer so rapiden Weise absinkt, geradezu alarmierend. Der Grad der Geburtenfreudigkeit ist ja ein Symptom für den allgemeinen Stand der Familie. Wo das Kind nicht mehr gewollt wird, ist auch der Keim des Zwiespalts in das Verhältnis von Mann und Frau gelegt. Offensichtlich liegt heute der Grund für die Ablehnung des Kindes nicht mehr in erster Linie in einer materiellen Notlage, sondern gerade die hochgeschraubten individuellen Lebensansprüche sind die Ursache dafür, daß das Glück nicht mehr im inneren Kreis der Familie gesucht wird, sondern in dem Genuß von äußeren Gütern, die mit der Familie keine engere Verbindung mehr haben.

Bei einer Beurteilung dieser Situation darf nicht übersehen werden, daß die Familie in den letzten Jahrzehnten eine Strukturwandlung erfahren hat, die zwar nicht ihr Wesen ändern konnte, aber doch ihre gesellschaftliche Stellung stark modifizierte. Aus der die gesamte Verwandschaft umfassenden Großfamilie, die vor allem in ländlichen Verhältnissen auch Produktionsgemeinschaft war, ist heute die nur aus Eltern und Kindern bestehende Kleinfamilie geworden. Sie ist höchstens noch Freizeit- und Verbrauchergemeinschaft. Obwohl die Familie in den Krisenjahren des Krieges und der Nachkriegszeit eine erstaunliche Beharrungs- und Widerstandskraft zeigte, ist doch ihre Gefährdung und Anfälligkeit weit größer als die der geistig und materiell gesicherten Familie früherer Jahrhunderte. Sie bedarf daher des Schutzes der Gesellschaft und des Staates mehr als zuvor. Dabei zeigt es sich aber, daß die kollektiven Hilfsmaßnahmen die Familie in eine höchst ungesunde Abhängigkeit von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen stürzt. Die Päpste werden daher nicht müde, immer wieder zu betonen, daß die Familie nicht für die Gesellschaft, sondern umgekehrt die Gesellschaft für die Familie da sei, und daß die Familie von Natur aus vor dem Staat da sei, daß sie also Rechte und Pflichten besitze, die der bürgerlichen Gesellschaft vorausgehen und von ihr völlig unabhängig sind.

Es gilt also, sich vor zwei Extremen zu hüten: Man darf die Familie sich nicht selbst überlassen und ihr die Hilfen verweigern, deren sie in der heutigen Gesellschaft bedarf, man darf sie aber nicht durch die ihr gewährte Unterstützung ihrer Unabhängigkeit, ihrer Selbstverantwortung und ihrer Eigeninitiative berauben. Darum sagt Papst Pius XII. in einer Rede am 20. September 1949: „Mögen daher die öffentlichen Einrichtungen und die privaten Initiativen ihre Anstrengungen vereinigen, um die Familiengesellschaft zu konsolidieren, ihr Potential an Lebens- und Tatkraft zu steigern, sie stützen, ohne sich an ihre Stelle zu setzen; möge man ihr vor allem die Kenntnis Gottes wiedergeben, deren Verlust in vielen Fällen leider den Ursprung ihrer mißstände bildet.“ (AAS XLI, 552.)

Äußere Hilfen dürfen der Familie nicht verweigert werden, entscheidend aber ist letztlich ihre eigene innere Lebenskraft, ihr Wille zur Daseinbehauptung und ihre religiös-sittliche Grundhaltung.

Fehlen diese, so führt trotz materiellen Wohlstands die Entwicklung zu den traurigen Erscheinungen, die eingangs erwähnt wurden. Verweigert die Familie die Erfüllung ihrer ureigenen Fortpflanzungsaufgabe, so kann auf die Dauer nicht ausbleiben, daß die zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards notwendigen Nachwuchskräfte fehlen, die Überalterung unseres Volksganzen fortschreitet und schließlich die starke Geburtenfreudigkeit Asiens und Afrikas das geburtenarme Europa überwältigt.

Glücklicherweise zeigen aber auch die Geburtenzahlen westlicher Länder seit Kriegsende eine erfreulich steigende Tendenz. So konnte die Soziale Woche Frankreichs, die für den sozialen Katholizismus unseres Nachbarlandes repräsentativ ist, im letzten Jahr mit Freude und Stolz feststellen, daß die Probleme der Familie ein neues Interesse finden und die Familie nach einer langen und schwierigen Periode der Geringschätzung von neuem Hochschätzung und Förderung findet. Der Substitut des Staatssekretariats Monsignore Dell’Aqua sollte in einem in Namen des Heiligen Vaters an den Kongreß gerichteten Schreiben „einem prächtigen Aufstieg der Familie“ seine Anerkennung. „In allen sozialen Schichten sind christliche Heime gegründet worden, die voll Hingabe und Mut sind, die Vertrauen in das Sakrament der Ehe setzen, das ihr eheliches Leben heiligen soll, und die Verantwortung der Geburt und Erziehung zahlreicher Kinder auf sich nehmen. Ihre spirituellen Ziele sind hochgesteckt, ihr Beispiel ist mitreißend. Solche Familien bilden eine große Hoffnung für Kirche und Gesellschaft.“ Diese Veränderung ist eine Folge der Bemühungen der verschiedenen Familienbewegungen und der wirksamen Familienpolitik des französischen Staates. Eine ähnliche Entwicklung ist in den USA festzustellen, dort hat sich seit 1940 die Zahl der Kinder im Alter bis zu fünf Jahren um fast siebzig Prozent erhöht. Die Zahl der amerikanischen Familien mit drei, vier oder mehr Kindern steigt dauernd. Sollte allein das deutsche Volk einen langsamen Selbstmord begehen und aus Mangel an Lebenswillen und Gottvertrauen vor dem geburtenreichen kommunistischen Osten freiwillig kapitulieren? (12. Januar 1958)

Quelle:  Im Spiegel der Zeit – (Weihbischof) Walther Kampe – Verlag Josef Knecht – Frankfurt am Main, S. 139ff.